Die Stadt innig lieben, ohne sie je gesehen zu haben, und dafür Leben, den Sehenden ihre Faszination näher zu bringen.
06.11.2025Frankfurt – Meine wahre Liebe. Wie kann man eine Stadt lieben? Wie kann man eine Stadt, in der man noch nie gewohnt hat, sein ganzes Leben, seine ganze Aufmerksamkeit, sein ganzes Herz schenken? Die Antworten versuche ich, L. S., 22 Jahre alt, ungefähr seit zehn Jahren zu finden. Geboren bin ich in Böblingen und aufgewachsen bin ich in Stuttgart, habe also von familiärer Seite gar nichts mit Frankfurt zu tun.
Aber was hat mich am 20. März 2016 dazu geführt, Mitleid mit einer Stadt zu bekommen, obwohl ich sie nicht einmal kannte? Ich habe ständig gehört, wie Frankfurt nur auf Probleme reduziert wurde, wie Drogenkriminalität oder die Kälte der Banken.
Als ich aufgrund meiner Blindheit nach Marburg an die Blindenstudienanstalt kam, das war im September 2015, hörte ich immer mehr von diesen Problemen. Ich wusste, dass ich mit Frankfurt von nun an etwas mehr zu tun haben würde. Da die Stadt auf direktem Wege zwischen Stuttgart und Marburg liegt, bleibt es nicht aus, hier umzusteigen. In Frankfurt steigen viele um. Sie sagen, die Stadt ist Deutschlands Drehkreuz. Sehen will sie aber keiner, nur herabwürdigen. Herabwürdigen auf ihre schlechten Seiten. Genauso, wie man es mit mir getan hatte früher. Ich war nie Lieblingsschülerin oder hatte besonders viele Freundinnen. Ich habe es aber immer wieder versucht. Scheinbar wollte mir das Leben zeigen, dass ich eine gleichgesinnte in einer Stadt gefunden habe. Eine Stadt, die mir, wie ich später feststellen werde, viel Motivation und Lebensfreude schenken wird. Sie schenkte mir sogar einen dualen Studienplatz in ihrer eigenen Verwaltung.
Aber ich werde auch lernen müssen, was es heißt, an Liebe festhalten zu müssen und was es heißt, auch mal zu scheitern. Während der Corona-Zeit habe ich mir Sorgen um sie gemacht wie um meine Familie. Heute darf ich darüber glücklich sein, dieser Stadt helfen zu dürfen, sie zu einer noch besseren zu machen. Das heißt, ich setze mich sehr stark für Inklusion und Barrierefreiheit ein und helfe auch beim Kochen und Verteilen von Essen für Obdachlose mit. Konkret leite ich das Projekt „Barrieren brechen quer durch Frankfurt“ gemeinsam mit meinem besten Freund. Dieses findet im Rahmen des Stadtteil-Botschafter-Programms der Stiftung Polytechnische Gesellschaft statt, wo ich auch von einer Mentorin betreut werde. Der Anfang des Projektes gestaltete sich mit einer Stadtführung, bei welcher ich die Gelegenheit hatte, sechs Teilnehmenden zu zeigen, wie ich als fast blinde Person durch die Stadt gehe. Am 20. September war Stiftungsjubiläum, zu dem ich gemeinsam mit meinem besten Freund auch einen Stand hatte. An diesem Stand gab es sowohl Spiele und fühlbare Objekte, welche man unter einer Augenbinde spielen konnte, als auch einen Parcours, welcher von mir geleitet wurde und bei dem sehende Menschen die Möglichkeit hatten, unter einer Augenbinde und mit einem Blindenstock in der Hand die Erfahrung zu machen, wie es ist, völlig blind durch die Stadt zu gehen – mit all ihren Hindernissen, Kanten und natürlich mit all ihrer Faszination.
Nun lebe ich seit einem Monat in dieser heiligen Stadt und bin noch mehr in dieser Gesellschaft integriert. Ich habe festgestellt, dass mir ein 24-Stunden-Tag nicht ausreicht, um meinem dualen Studium, meinen Projekten und allem, was so anfällt, gleichermaßen nachzukommen. Mein Studium hat sehr, sehr gut angefangen und, abgesehen von ein paar Schwachstellen, komme ich bis jetzt auch sehr gut durch die Theoriephase.
Auch mit meinen Projekten geht es weiter: Am Freitag, dem 31.10., nahm ich am Fußverkehrsforum der Stadt Frankfurt und vieler verschiedener Organisationen teil, welches sich mit einer Fußverkehrsstrategie beschäftigt, die alle Personengruppen abdecken soll. Ich deckte den Bereich der Barrierefreiheit ab und darf nun gemeinsam mit der PB Consult GmbH zusammenarbeiten und den Bereich der Barrierefreiheit vertreten. Denn dort hat niemand diese Seite abgedeckt.
Bleibt also spannend, welche spannenden Projekte mir diese Stadt noch schenken wird. Sicher ist, dass ich nun angekommen bin. Angekommen nach zehn langen Jahren voller Energie, Freude, Zielstrebigkeit – aber auch voller Ängste, Herzschmerz und natürlich der Zielstrebigkeit, mich irgendwann mal in die starken Arme dieser wundervollen Stadt sinken lassen zu dürfen.
Danke – wie ich sie nenne – Frankfi! Danke dafür, was du mir alles ermöglichst. Ich hoffe, ich werde dich niemals enttäuschen. Auch, wenn das Leben nicht immer rund läuft. Aber wer weiß das besser als du? Ich danke dir, weiter deinen Weg begleiten und gestalten zu dürfen und mein Leben lang unter deinem schützenden Mantel handeln zu dürfen. Ich kenne die Verantwortung sehr wohl, die dahinter steckt.
Nur, dass du es noch einmal weißt: Ich liebe dich!!!
L. S.