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Ein dubioser (Vor-)Fall am „Heiligen Morgen“ an der Konstablerwache.

11.11.2025

Ein Heiliger Morgen in den achtziger Jahren – eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

In den Jahren zuvor hatte ich die Innenstadt an diesem besonderen Tag stets gemieden, erst recht die Konsummeile. Ich wollte nicht Zeuge sein dieser Last-Minute-Hektik, der Hast nach dem richtigen oder letzten, noch fehlenden Geschenk kurz vor Toresschluss; das stets kolportierte Geschiebe und Gedränge durfte gern ohne mich stattfinden.
An jenem 24. Dezember vor mehr als drei Jahrzehnten trieb mich jedoch die Neugier in die Innenstadt, den Tag vor dem Heiligen Abend mit seinen vielfach beschriebenen kommerziellen Exzessen aus eigener Anschauung zu erleben – nicht aber, weil noch meinerseits Besorgungen ausgestanden hätten. Auf diffuse Art weihnachtlich gestimmt, spazierte ich an diesem frostigen Vormittag in Richtung der Zeil-Kaufhäuser.
Umgeben von tänzelnden Schneeflocken nahm ich die durchwanderten Straßen annähernd als ein Weihnachtspostkartenidyll wahr; die tütenbewehrten Passanten wirkten zwar zielstrebig, fügten sich aber ein in ein eher harmonisch erscheinendes Ganzes. Dieser Eindruck wurde jäh unterbrochen, als in der Nähe der Konstablerwache zwei Fahrräder mit metallisch krachendem Geräusch zu Boden stürzten und sich zwei Männer, wild gestikulierend und laut schimpfend, in Bewegung setzten – der eine den anderen offenbar verfolgend.
Beobachter der Szene waren ein Dutzend Personen; übrig blieb ich schließlich mit einem grauhaarigen Mittfünfziger, der sich – so wie ich – nicht teilnahmslos davonstehlen wollte. Wir richteten gemeinsam die Fahrräder wieder auf und tauschten Vermutungen über das soeben beobachtete Geschehen aus. Der Fall schien uns klar: Da hatte jemand versucht, ein Fahrrad zu stehlen, war seitens des Besitzers ertappt worden und wurde von diesem auf seiner Flucht verfolgt. So weit, so gut – man hätte also den Schauplatz des eher unspektakulären Ereignisses verlassen können.
Wenn da nicht der Sachverhalt gewesen wäre, dass sich im Gepäckkorb eines der umgestürzten Räder eine eingeschweißte, gefrorene Weihnachtsgans befand – und zu beiden Enden des Lenkrades jeweils eine Kaufhaustüte, die, prall gefüllt mit frisch erworbenen Textilien, nicht ohne Wert zu sein schienen. Wir verabredeten also, im Interesse des fast Bestohlenen, dessen Wertgegenstände bis zu seiner Rückkehr zu sichern.
Die Minuten verrannen, und da der beobachtete Vorgang für uns nicht weiter interpretationsbedürftig war, nahm das Gespräch eine persönliche Wendung. Mein Mitstreiter stellte sich als Pressegroßist vor, der bereits zwei Jahrzehnte im Rhein-Main-Gebiet beruflich tätig war, aber aus der Nähe von Kassel stammte. Seine Herkunft war für mich bereits aus der unverwechselbaren, dialektalen nordhessischen Färbung seiner Sätze zu entnehmen – ein für mich heimatlicher Klang.
Schnell waren wir uns einig, dass es kein Zufall sei, dass sich hier zwei gebürtige Nordhessen darum kümmerten, dass die Sache eine verträgliche Wendung nehmen würde. Unsere „dörfliche“ Sozialisation lege es nahe, nicht einfach wegzuschauen; diese Qualität habe uns beiden das Großstadtleben noch nicht abtrainiert – darüber waren wir uns schnell einig.
Einerseits passte das Sich-Kümmern um in Bedrängnis geratene Mitbürger zu diesem Datum besonders; andererseits fehlte uns etwas ganz Entscheidendes: Der beinahe Geschädigte war noch immer nicht zurückgekehrt. Eine Viertelstunde war verstrichen, wir machten uns Sorgen. Waren die beiden aneinandergeraten, und hatte „unser Mann“, dessen Fahrrad und Weihnachtseinkäufe wir bewachten, den Kürzeren gezogen? Dies schien uns die einzig plausible Möglichkeit zu sein.
Was also tun? Jetzt die Szene ohne Aufklärung zu verlassen, kam nicht in Frage. Da wir nun einmal auf dem Hilfepfad waren, sollten professionelle Helfer einbezogen werden. Ich ging in eine Telefonzelle – das „Schlau-Phon“ war noch nicht erfunden –, um das nächstgelegene Polizeirevier anzurufen.
Nein, eine körperliche Auseinandersetzung war in den letzten Minuten nicht gemeldet worden, auch sonst nichts zu unserer Geschichte Passendes. Man versprach, einen Streifenwagen vorbeizuschicken, um die Sache aufzunehmen.
Mit dem Eintreffen der Beamten verabschiedete sich mein Gesprächspartner – er hatte tatsächlich noch letzte Geschenke zu besorgen. Einer der Polizisten hatte schon meine persönlichen Daten erfragt und war soeben dabei, den Inhalt der am Lenkrad befestigten Tüten zu inspizieren, als ein recht kleiner Mann mit schmaler Hornbrille und einer Schimpfkanonade auf uns zueilte und die Beamten anblaffte:
„Was machen Sie da? Das ist mein Fahrrad! Mit welchem Recht wühlen Sie in meinen Einkaufstüten?“
Den beiden Staatsdienern verschlug es die Sprache.
„Moment mal“, fauchte ich den Tobenden an, „ich habe seit einer halben Stunde Ihr Fahrrad und Ihre Tüten bewacht – die wären sonst nicht mehr da!“
Die Streifenpolizisten hatten sich mittlerweile berappelt. „Das ist also Ihr Fahrrad?“
„Ja, so ist es, und ich wiederhole es: Es geht Sie nichts an, was ich eingekauft habe, und ich bin Ihnen auch sonst keine Erklärungen schuldig“, giftete der kleine Radbesitzer in Richtung der Polizisten, und zu mir gewandt: „Wer hat Sie überhaupt beauftragt, mein Fahrrad zu bewachen?“
Noch ehe ich zu einer Antwort fähig war, schwang er sich aufs Rad und verschwand grußlos.
Die Beamten schauten mich mitleidig an. „Tja, da müssen Sie wohl etwas falsch interpretiert haben. Vielleicht waren beide Flüchtenden als Diebe unterwegs, die sich, weil ertappt, aus dem Staub gemacht haben.“
So oder so ähnlich musste es wohl gewesen sein.
Ich konnte es dennoch nicht fassen: Da lässt jemand seine Wertsachen eine halbe Stunde unbeaufsichtigt im Einkaufstrubel und beschimpft die Personen, die sich um sein Eigentum sorgen, auch noch der Übergriffigkeit? Ein solcher Leichtsinn, eine derartige Fehlwahrnehmung waren nicht zu überbieten – von fehlender Dankbarkeit gar nicht zu reden.
Ich fühlte mich zunächst wie in einem Theaterstück – mit dem falschen Text zur Rolle ausgestattet –, war wütend, auch etwas beschämt, verfiel aber von Minute zu Minute in stärkeres Grinsen. Denn ich hatte in dem Radbesitzer sofort einen stadtbekannten Anwalt der linken Szene erkannt.
Vor diesem Hintergrund malte ich mir aus, was wohl in seinem Kopf vorgegangen war, als er die Beamten sein Gefährt kontrollieren sah. Da war dem sensiblen Rechtsvertreter wohl der Datenschutz-Gaul durchgegangen. Wir lebten schließlich in den achtziger Jahren; die Auseinandersetzung um die Volkszählung war noch in guter Erinnerung.
Zudem: Geprägt durch die politischen Umstände der siebziger und achtziger Jahre konnte die Staatsmacht, in welcher Verkleidung sie auch auftrat, für jemanden, der als Anwalt auf der anderen Seite focht, nur verdächtig sein – und kam als „Freund und Helfer“ schon gar nicht in Frage, auch nicht am Heiligen Morgen.
Zugleich war auch unsere Rolle als verhinderte Helfer irgendwie putzig und basierte auf freihändigen Konstruktionen. Eine vorweihnachtliche Gefühligkeit hatte uns wohl nach der passenden guten Tat für diesen Tag suchen lassen. Alles passte vortrefflich zusammen, um diese slapstickartige Szene zu produzieren.
Wenn ich heute den mittlerweile wohlbeleibten kleinen Rechtsanwalt – er wohnt nur wenig entfernt – durch die Straßen radeln sehe, muss ich schmunzeln. Meine Heiterkeit würde er mittlerweile hoffentlich teilen können; aber er kennt die kleine Geschichte, so wie ich sie seinerzeit erlebt habe, bis heute nicht.
B. E., Frankfurt am Main